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Es gibt gewisse Muster im US-amerikanischen Fernsehen, die
über die Jahre fast schon zu Gesetzmäßigkeiten geworden sind. Ein Beispiel: HBO
macht Serien mit hohen Chancen auf Kultstatus. In den letzten paar Jahren
scheint sich eine neue Faustregel herauszuschälen, die da heißen könnte „Netflix
macht saugute Eigenproduktionen“. Doch was ist mit einem der neuesten
Sprösslinge des Streaming-Anbieters? Kann Marvel’s Daredevil die hohen
Erwartungen erfüllen? Mein Urteil stand bereits nach zwei bislang geschauten
Folgen fest! Lies selbst, ob es positiv oder negativ ausfiel, gleich nach einem
Klick…
Ich gebe es zu: mein Comicwissen beschränkt sich auf eine
kindliche Extremphase in Entenhausen, inklusive Micky-Maus-Abonnement und
kompletten Buchrücken-Jahrgängen des Lustigen Taschenbuchs. Ach und die YPS,
natürlich. Alles andere, also auch alle Comichelden von Marvel und DC sind
weitgehend spurlos an mir vorübergezogen. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht
auch ich Teil der großen Masse geworden bin, die in den letzten Jahren in die
Kinos strömte, um Iron-, Bat-, Super- und Was-weiß-ich-noch-Man genüsslich dabei
zu beobachten, wie sie mit ihren mächtigen Antagonisten (und inneren Lastern) effektvolle
Schlachten in und um amerikanische Großstädte austragen. Ich denke nicht, dass
der größte Teil des Comicfilm-Publikums heutzutage auch zu den Comiclesern
gehört, die Budgets und Einspielergebnisse dieser Filme dürften in ganz
anderen, viel höheren Gefilden sein als die der Comicbuchindustrie. Diese Art
Filme scheinen also einen gewissen massentauglichen Charme zu versprühen, vielleicht den Reiz
des Phantastischen, der uns jedes Jahr im Blockbustersommer zu
Teilzeit-Comicfans macht. Warum ich das alles der eigentlichen Serienkritik
voranstelle? Nun, ich will damit sagen, dass ich keinesfalls ein Experte bin,
wenn es um Daredevil geht. Mein Wissen über diesen Marvel-Superhelden passt auf
einen Bierdeckel und rekrutiert sich aus einer vagen Erinnerung zu einem Ben-Affleck-Film
und hier und da aufgeschnappten Informationen. Will heißen: ich kann absolut
nichts zur Werkstreue dieser Serienadaption sagen, ich weiß nicht, ob es dem gezeichneten
Alter Ego gerecht wird und ob hier Handlungsstränge bis zur Perversion
umgeschrieben wurden. All das ist mir ehrlich gesagt auch herzlich egal, aber der
geneigte Leser sollte es erfahren, denke ich.
Was ich vorher schon wusste war, dass Daredevil blind ist
und seine Superkräfte vor allem darin bestehen, dass seine übrigen Sinne bis
zur Perfektion geschult sind. Letzeres hat ihm zusammen mit seinen Nahkampfkünsten
schon so manchen Erfolg in der Verbrechensbekämpfung eingebracht. Erblindet ist
er als Kind bei einem Straßenunfall mit einer Wagenladung von bis obenhin gefüllter
Fässer Giftbrühe. Kleine Nerd-Notiz am Rande: dieselbe auslaufende Brühe soll
dann in der Kanalisation der Stadt für die heftige Mutation von ein paar
Schildkröten und einer Ratte gesorgt haben, aber das ist eine gänzlich andere
Geschichte! Die Serie greift entscheidende Punkte aus der Kindheit von
Daredevil aka Matt Murdock in Flashbacks auf, hauptsächlich dreht sich die
Handlung jedoch um den erwachsenen, bereits erste Superhelden-Aktionen
unternehmenden Mann, der zusammen mit seinem Anwaltspartner und Freund Foggy
Nelson tagsüber auf Mandantensuche für die frisch gegründete Kanzlei geht. Foggy
– gespielt von Elden Henson – kristallisiert sich dabei als die humoreske Rolle
heraus, und stellt mit seinem selbstironischen Auftreten einen guten Gegenpol
zum eher in sich gekehrten und ernst gestimmten
Protagonisten dar. Daredevil selbst wird von Charlie Cox verkörpert, den man
zum Beispiel als Bodyguard Owen Slater aus Boardwalk Empire kennen kann. Meiner
Meinung nach wurde hier perfekt gecastet, bis jetzt passen die Hauptrollen sehr
gut ins Gesamtbild der Serie. Vor allem Mr. Cox nimmt man seine geschärften
Sinne stets als Superheldenfähigkeit ab. Dabei ist die Serie eher nahe an der
Realität gebaut – zumindest soweit ich bislang geschaut habe. Hier findet man
keine Dimensionstore, Laserwaffen, Roboterpanzeranzüge oder fliegende Hämmer.
Zwar wird hier und da darauf Bezug genommen, dass Dinge aus The Avengers in der
Stadt passiert sind, doch dies geschieht nur in Erzählungen, kleinen
Randnotizen in Gesprächen und ordnet die Serie damit chronologisch nach diesem
Film ein.
Nein, hier wird ein anderer Fokus gesetzt, als auf bloße Effekthascherei:
Matt nutzt seine Sinne eben nicht nur für Kämpfe gegen Halunken, sondern auch
in Gesprächen mit vermeintlichen Tätern in seiner Rolle als Anwalt: ab und an
fährt die Kamera ganz dicht an ihn heran und man fühlt sich fast selbst so, als
könne man die feinen Nuancen erkennen, die er wahrnehmen kann, das Beben in
einer Stimme, die schnelle Atmung und der Herzschlag des Gegenüber, Wahrheit oder Lüge, Flucht oder
Kampf, wer zieht eine Waffe und und und. Mit dem Daredevil legt man sich besser
nicht an, das wird alsbald klar. Und dennoch bleibt er menschlich, viel
menschlicher als ein Superman beispielsweise: Angriffe und Verletzungen setzen
ihm sichtlich zu, er kämpft nicht perfekt, schließlich ist er blind, aber er
hat etwas, dass man wohl am besten als „Nehmerqualitäten“ bezeichnen kann: Ja,
Daredevil kann einstecken, und das nicht zu knapp. Positiv fällt dabei auf,
dass sich die Kämpfe – meist in Form von "Mehrere gegen Einen" – sehr echt und rau
anfühlen, dabei wird nicht hektisch geschnitten und gewackelt, wie es an vielen
Stellen als visuelle Krankheit in Kinofilmen grassiert. Nein, vielmehr wird
hier um Leben und Tod geboxt, getreten und geworfen. Man hat (vielleicht bis
auf Ausnahmen) das Gefühl, dass eine Auseinandersetzung so ablaufen könnte. Mir
gefällt der in richtigem Maße eingestreute Action-Anteil jedenfalls äußerst
gut, und spätestens seit einer phänomenalen Szene in einem Gang am Ende der
zweiten Folge war es um mich geschehen: mir wurde klar, dass ich mich nun
vollends in diese Serie verliebt hatte, ja dass sie einer der besten Neustarts
seit langem für mich ist! Das Sahnehäubchen sind dann noch Dinge wie die
gelungenen Dialoge mit viel dadurch transportierter Charakterzeichnung und ein
Vorspann, der endlich einmal wieder auf eine sehr (!) stimmige Titelmusik und
ansprechende Bebilderung setzt. Gerade das Vorspanndesign vermisste ich in
letzter Zeit sehr bei Serien, und auch ein ansonsten über allen Zweifel
erhabenes Breaking Bad konnte mich mit seinem kurzen
Periodensystem-Jingle-Einerlei nie so richtig gut in eine Folge starten lassen.
Von noch verknappteren Intro-Totalausfällen à la The Blacklist oder Falling
Skies ganz zu schweigen. Nein, hier werde ich endlich einmal wieder gekonnt in
die nötige, leicht melancholische Grundstimmung der Serie hineingeleitet,
bravo!
Daredevil ist als Serie mal ernst und dreckig, an den
menschlichen kriminellen Abgründen entlangwankend, mal amüsierend und
erfrischend. Und Matt Murdock ist mittendrin, innerlich zerrissen, das Gute im
Blick doch das Böse innen und außen konfrontierend. Ich bin gespannt, wie seine
Reise weitergeht!
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